Wovon Schwalben träumen – Daniela Meisel
Eine Buchrezension von Marlies Thuswald
Dieses Buch ist ein Platz zum Atmen. Es liegt fein gebunden in der Hand. Vom Umschlagbild blickt ein Mädchen in Schürzenkleid, sepiafarben, an mir vorbei.
Die Sprache zieht mich sofort hinein.
Eine junge Frau, Wissenschafterin, Fast-Verlobte, richtet ihre Gedanken an ein Du: die verstorbene Oma, in deren leerstehende Wohnung sie regelmäßig zurückkehrt. Um abzustauben, nachzudenken und der Ahnin mithilfe von persönlichen Fundstücken nahezukommen. „Oma, haben sich die Fragen an Frauen gar nicht geändert?“
Daniela Meisel zeichnet mit großer Behutsamkeit tiefschürfende Bilder von Großmutter und Enkelin, deren Leben über die Generationen hinweg verflochten sind – über die Familie, das Frau-Sein, das Hinterfragen von gesellschaftlichen Rollenbildern und das zentrale Thema der Selbstbestimmung.
Im Roman lerne ich die Großmutter, Freda, als Teenagerin kennen, die ungeachtet der Jahreszeit und der Erwartungen an sie, wann immer möglich, barfuß durch Wald und Wiese läuft. (… kaum aus den Augen der Mutter, bocken die Zehen wie die Ziegen im Verschlag der Gastwirtschaft, und sie schmeißt die lästigen Treter in die Höhlung des Baumstamms…) Dabei sind ihre Kindheit und Jugendzeit nicht nur von den politischen Ereignissen der 1930er Jahre überschattet, sondern auch von Ausgrenzung und Anfeindung im Dorf aufgrund ihrer außerehelichen Geburt, den Vorstellungen ihrer Mutter („Halt dich gerade!“), den Launen des häufig abwesenden Vaters und dem Verschwinden ihres Freundes Benjamin.
Das Schwere wird keineswegs ausgespart, ist allgegenwärtig, steht aber nicht im Vordergrund. Denn da ist die junge Freda, die ihre eigenen Träume und Erwartungen an das Leben entwickelt, das sie sich von keinem Mann diktieren lassen will. Die Sehnsucht nach Frei-Sein, die sich durch den ganzen Roman zieht, wird auch in Fredas intensiver Verbundenheit mit den Tieren ihrer Umgebung spürbar, etwa mit den titelgebenden Schwalben. „Sie träumen vom Land aus Himmel und Wasser“, sagt Benjamin.
Stärke und Selbstbewusstsein der Hauptfigur spiegeln sich in der wundervoll poetischen Sprache wider, wo Sätze fließen, wo Worte zu frischen Sprachbildern zusammengeflochten werden, oft lose durch Satzzeichen verbunden, überbordend, wirbelnd wie Freda selbst.
Die Autorin, BÖS-Absolventin und Biologin, gibt immer wieder – auf wohltuend entschleunigende Weise – Raum für genaue Beobachtungen der Natur im Wandel der Jahreszeiten, die dabei innere wie äußere Umstände der Protagonistin sinnlich verstärken. Die vibrierende Aufbruchsstimmung nach dem Winter („Freda, dein Freund der Frühling!“) ebenso wie das Morbide, Düstere, das mit traumatischem Verlust, mit Erwachsenwerden und dem politischen Umbruch vermehrt Einzug hält. Beim Darüberklettern greift Freda ins Totholz und stockt, sieht Schwämme und Flechten ihre Hände zuwuchern.
Parallel zu den geschichtsschweren Blicken in Fredas Jugendzeit, die den größten Teil des Erzählraums einnehmen, sucht die Enkelin an einer Weggabelung ihres Lebens Rat und Mut in der Biografie ihrer selbstbestimmten Ahnin, stellt Fragen an die freieste Frau der Familie und tastet sich so – an den Erinnerungen entlang – in ihrer eigenen Situation vorwärts. Bis sie eine Entscheidung treffen kann.
Ein feinfühliges, inspirierendes, ein kraftvolles und mutiges Buch. Zum immer wieder Hineinträumen und Tieferspüren.
Marlies Thuswald, Oktober 2018
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Daniela Meisel: Wovon Schwalben träumen
Wien: Picus Verlag, 2018
228 Seiten
EUR 22,00
ISBN: 978–3‑7117–2071‑9
Daniela Meisel und Marlies Thuswald werden beide bei der BÖS-AbsolventInnenlesung am 12.12.2018 im Au auftreten.