Wenn rot kommt – Petra Piuk, Barbara Filips
Eine Rezension von Günter Vallaster
Viva Las Vegas! Oder doch nicht ganz? Wer profunde literarische und fotokünstlerische Einblicke hinter die allzu glitzernden Fassaden der Spielhöllenstadt in der Mojave-Wüste sucht, ist mit dem vorliegenden prachtvoll gestalteten Band von Petra Piuk und Barbara Filips, der aus einer gemeinsamen Recherchereise in die berühmt-berüchtigte „Sin City“ entstanden ist, bestens beraten.
Der Buchtitel „Wenn Rot kommt“ eröffnet ein ganzes Feld an Assoziationen, die mit dieser Farbe verbunden sind, von der Ampel bis zum Blut. Die naheliegendste gibt der grafisch dargestellte Roulettekessel am Beginn vor, nämlich die Spielfarbe im Casino. „Play!“ lautet demgemäß die erste Anweisung im Buch und die darauffolgende „Spielanleitung“ als Leseanleitung beschreibt das originelle Konzept: Der Text kann nicht nur linear vom Anfang bis zum Ende gelesen werden, es ist auch möglich, den wie im Rouletterad angeordneten Kapitelnummern der Reihe nach zu folgen, ja sogar die Reihenfolge am Roulettetisch selbst zu erspielen. Das bringt enorme Dynamik und Vielschichtigkeit in den Text, lässt die Faktoren „Glück“ oder „Zufall“ als greifbare, aktive Stilmittel wirken. Die Auflösung von festem Raumgefüge und herkömmlicher Zeitabfolge erhebt den Plot zu einem poetischen Kaleidoskop, das an Filme von David Lynch erinnert, wie „Lost Highway“ oder „Mulholland Drive“. Ja, es ist sogar noch möglich, die Raum- und Zeiterfahrung in der Lektüre gleichsam zu individualisieren. Wie ein Film, der aus Filmrissen besteht, aus Puzzleteilen, die sich zu einem individuellen Bild zusammenfügen lassen.
Und der Plot hat es wahrlich in sich: Ein Paar, Lisa und Tom, reist nach Las Vegas und verliert sich im Drogenrausch. Drogen‑, Alkohol‑, Hormon- wie auch Spielräusche können die Raum- und Zeitwahrnehmung verändern, sie beschleunigen, verlangsamen oder zum Stillstand bringen. Ein flirrender und schnelllebiger Ort wie Las Vegas kann dies noch verstärken. Und es ist ein atemberaubendes Leseerlebnis, Lisa, deren Perspektive das Buch hauptsächlich wiedergibt, auf diesem Trip zu folgen, zumal die schnell geschnittenen Szenen, die wie mit einer Handycam festgehalten wirken, ein eindringliches Porträt entstehen lassen, nicht nur von Las Vegas, sondern überhaupt der USA während der Trump-Ära, von Menschen, die dem Konsumrausch ausgeliefert ständig dazu gezwungen sind, sich als Ware möglich billig anzupreisen und teuer zu verkaufen. Rot gilt auch als Farbe der Liebe, Las Vegas als Hochzeitsstadt und das Heiraten als Glücksspiel. Doch das Rot wird zur grellen Reklamefarbe, die Stadt zum Labyrinth und Tom ist verloren gegangen, Lisa kann sich nicht erinnern, wann, wie, wo und warum, und macht sich verzweifelt auf die Suche. Die Kugel rollt, rien ne va plus. Sich mit ihr auf diese Suche zu begeben und sich dabei dem Flow des Stream of Consciousness respektive Unconsciousness einschließlich raffiniert eingewobenen, oft auch typografisch gestalteten Zitat-Montagen hinzugeben, sei allen empfohlen, transmediale Sprach- und Bilderlebnisse der Extraklasse sind garantiert.
Die Fotokunstarbeiten von Barbara Filips, die in unterschiedlichen Formaten, mal klein wie Diapositive, mal doppelseitig groß über das Buch verteilt sind, ergänzen den Text von Petra Piuk ideal, als dichte, vielschichtige Momentaufnahmen in den Glücksspielfarben Rot und Schwarz, die mit einer Infrarotkamera erstellt wurden. Die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbare Farbe der Wärme und Hitze bringt noch weitere Tiefe und Konturen in die Aufnahmen von der Stadt und lässt sie dadurch wie eine surreale Fata Morgana in der heißen Wüste des Ultrakapitalismus erscheinen, in der überall ein- und vielarmige Banditen lauern
Günter Vallaster, November 2020
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Wenn rot kommt: Petra Piuk, Barbara Fi
Wien, Kremayr & Scheriau 2020
192 Seiten
EUR 24,70
ISBN: 978–3‑218–01227‑0
Mehr zu Petra Piuk
Mehr zu Barbara Filips
Mehr zum Buch
Mehr zu Günter Vallaster