Es fehlt viel – Katherina Braschel
Eine Rezension von Britta Mühlbauer
„Warten Sie nicht auf einen Spannungsbogen. Es geht nicht darum“, steht im Klappentext von Katherina Braschels Buch „Es fehlt viel“. Das stimmt – und stimmt nicht. Es gibt rote Fäden, die diese Textmontage zusammenhalten. Manche sind offensichtlich, andere folgen einer inneren Logik, die sich der Leserin / dem Leser nur assoziativ erschließt. Eine Ahnung, dass alles zusammenpasst.
Im Prolog, der nicht so heißt, sondern „Dieser Text ist ein Versuch“, legt die Ich-Erzählerin ihr Erzählprogramm offen. Es geht darum, die Aufmerksamkeit („den Raum“) zu beanspruchen, die einem zusteht, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dem konjunktivisch formulierten „Inhaltsverzeichnis“ („Ich könnte eine Dokumentation machen über …“) folgt als Vorspann zum ersten Kapitel eine Liste von Dingen, die die Ich-Erzählerin bewusst ausspart.
Gesprächsfetzen von PassantInnen, FreundInnen, Verwandten – penibel datiert und verortet, jedoch nicht chronologisch geordnet – sind so platziert, dass sie wie Scharniere funktionieren: als Titel für das Folgende oder als Kommentar zum Vorangegangenen, oft beides in einem.
Manchmal zieht sich eine Ahnung von Chronologie durch die Ausschnitte aus dem Leben der Ich-Erzählerin. Da wird ein Notpass beantragt, der später bei einer Flughafenkontrolle wieder auftaucht. Eine Nachbarin hört deutsche Schlager, mit Vorliebe so laut, dass die Ich-Erzählerin mithören kann, was sie der Nachbarin nicht übelnimmt. Sie generiert aus allem, was ihr begegnet, Reflexionen und Erinnerungen, die den Text weiterschreiben.
Insgesamt ergibt sich das Bild einer jungen Frau, die herumkommt, Züge und öffentliche Verkehrsmittel liebt, Menschen trifft, sich mit mehreren prekären Jobs über Wasser hält, liest, prokrastiniert, schreibt, fürs Theater arbeitet und vor allem auf ernsthafte, unterhaltsame, originelle Weise dokumentiert und kommentiert, was ihr begegnet.
Es geht um Fragen wie: Wer bin ich, wie lebe ich? („The fragmentation of ourselves, nah, don’t be so sensible.“). Was kann, darf, muss, soll ich erzählen? Wie kann ich es festhalten?
Bei Lesungen, so die Autorin, werde viel gelacht, häufig an Stellen, an denen sie es nicht erwarte. Also nicht dort, wo sie – ganz bewusst – Tiefgründiges auf Alltäglich-Banales auflaufen lässt. Als LeserIn / ZuhörerIn lacht man auch dort, wo Gedanken auftauchen, die man selbst hätte denken können, wenn man über die Momente der Überraschung, der Verwunderung, des Ärgers über den Alltag hinausdenken würde, wie es die Ich-Erzählerin tut.
Trotz der manischen Dokumentationswut – manchmal fällt die Ich-Erzählerin sich damit selbst zur Last – steht fest: Es fehlt viel. Und das zeichnet diesen Text aus. Er bietet genug Raum, ihn weiterzudenken und ihn mit eigenen Erfahrungen abzugleichen und anzureichern.
Britta Mühlbauer, März 2021
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Katherina Braschel: Es fehlt viel
edition mosaik, Salzburg 2020
124 Seiten
10,00 Euro
ISBN: 978–3‑9504843–3‑5