Das zweite Gesicht. Gedichte. – Erika Wimmer-Mazohl
Eine Rezension von Cornelia Stahl
Neun Skizzenbücher Markus Vallazzas bilden die Hintergrundfolie für Erika Wimmer- Mazohls lyrische Notate. Feinsinnig „übersetzt“ sie seine Zeichnungen menschlicher Gesichter in eine eigene Sprache, unterteilt sie in Hölle I, II und III, denen sie jeweils Überschriften wie
visionär-libidinös-profetisch-erlöst. amen, atomar-äolisch-schwärmerisch-kubistisch sowie
bandagiert-maskiert-punktiert-flatterhaft vorangestellt.
Die Autorin beginnt mit einem Nichtgedicht:
„nichtgedicht“ [geprüft]
wenn an einem Tag wie diesen unser tun
auf dem Prüfstand steht
Wimmer-Mazohl überprüft die Sinnhaftigkeit des Lebens, spiegelt Beobachtungen und Gedanken, erinnert mitunter an Peter Handkes „Versuch über den geglückten Tag“. Das Nichtgedicht appelliert an die Unterbrechung unserer Alltagsraserei, fordert dazu auf, unser bisheriges Tun einer Prüfung zu unterziehen.
Die Lyrikerin übernimmt Vallazzas (Charakter)Bezeichnungen menschlicher Gesichter: visionär, typographisch, romantisch, planerisch etc. und stellt sie titelgebend ihren Gedichten voran.
Vallazzas „Kopfgeburten“, im Buch mittig platziert, ging eine intensive Auseinandersetzung mit Dante Alighieris „Divinia Commedia“ voraus. Der Künstler selbst entdeckte Parallelen zur Gegenwart, identifizierte sich mit Dantes Gedanken: dem einsamen Weg Richtung Hölle, der Ankunft am Läuterungsberg und dem Erreichen des Paradieses als mögliches Ende eigener Lebenskrisen.
Auch Allgegenwärtiges wird bei Wimmer-Mazohls lyrisch „übersetzt“:
mund nasen schutz (nasenschützer)
für corona 2020
sind gnadenlos alle öffnungen
verriegelt mit schloss versiegelt
gebeutelt ich mensch im auweh
kein schreien / nur lispelbahö
Im zweiten Teil ändert sich der sprachliche Duktus: Namen und Widmungen fließen ein: für markus vallazza, für meine mutter, für adel el sayed, für ingeborg bachmann. Die Autorin bricht bisherige, an Vallazzas Miniaturen ausgerichtete Ordnungen auf, zoomt ganz nah heran an das lyrische Ich.
Eine sorgfältig konzipierte Arbeit, ergänzt mit einem wunderbaren Nachwort von Günther Oberhollenzer.
Erika Wimmer-Mazohl, geboren 1957 in Südtirol, schreibt Lyrik und Prosa, lebt in Innsbruck.
Ihr Lyrikband liest sich als Hommage an den Südtiroler Künstler Markus Vallazza (1936–2019). Das Ineinandergreifen von Vallazzas Skizzen und Wimmer-Mazohls Gedichten beachtet das jeweils Genuine, sodass die Arbeit des Künstlers und der Autorin verschiedenfarbig leuchten.
Cornelia Stahl, Juli 2021
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Erika Wimmer-Mazohl: Das zweite Gesicht. Gedichte.
Innsbruck: Limbus-Verlag. 2021.
120 Seiten.
20,00 EURO
ISBN 978–3‑99039–200‑3
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Mehr über die Autorin
Cornelia Stahl ist Sozialökonomin und Absolventin des Lehrgangs „Schreibpädagogik“. Sie ist Redakteurin bei Litges.