Sagen Reloaded – Thomas Ballhausen und Sophie Reyer (Hg.)
Eine Rezension von Maria Aschenwald
Laut dem Vorwort des Herausgebers und der Herausgeberin hat die vorliegende Anthologie den Anspruch einer ambitionierten und vielschichtigen Auseinandersetzung mit dem österreichischen Sagenschatz. Thomas Ballhausen und Sophie Reyer haben 37 Autor_innen eingeladen, bekannte österreichische Sagen neu zu erzählen und „sowohl auf ihre Verbindungen von Geschichte, Geschichten und Geschichtsschreibung als auch auf die Kontexte eines zu problematisierenden Erzählens“ zu befragen. Die Vorgaben an die Autor_innen war einerseits ein deutlicher Bezug zu einer österreichischen Sage, den darin eingelagerten Motiven und dem jeweiligen Bundesland und andererseits ein den vorliegenden Sagensammlungen gemäß knapper Umfang des neuen literarischen Textes.
Die neu erzählten Sagen sind alphabetisch den Nachnamen der Autor_innen entsprechend geordnet und im anschließenden biographischen Anhang gibt es eine kurze Information zur jeweiligen Sage, auf die Bezug genommen wurde. Unter der Überschrift „Sagen, Gerücht, Alltagsgeschichte“ findet sich eine ausführliche Nachbemerkung, die alle Aspekte der österreichischen Sagen, ihre Definition und Abgrenzung gegenüber anderen einfachen Formen der Volkserzählung, ihre Geschichte, Verbreitung und Erforschung vorstellt.
Einzelne Sagen wurden mehrfach als Grundlage genommen, was die unterschiedlichen Zugänge deutlich macht. So haben vier Autor_innen die Wiener Sage vom Basilisken bearbeitet. Im Text von Xaver Bayer wütet und mordet der Basilisk im Wien von heute und der Ich-Erzähler macht sich auf, ihn mit dem Display seines Smartphones zu erledigen, das als Spiegel fungieren soll (sein eigenes Spiegelbild tötet bekanntlich den Basilisken). Er wird vom Basilisk zum Selfiemachen eingeladen, findet sich in einem narzisstischen Dialog wieder – und am Ende stellt sich die Frage, wer denn nun der Basilisk ist. Lucas Cejpek spannt einen Bogen – „die große Kurve“ – vom tödlichen Untier bis zum tödlichen Virus mit den Ähnlichkeiten der Symbole von Wien bis Wuhan. In der Bearbeitung von Sabina Holzer philosophiert das Untier, die Figuren und Elemente der Sage werden als Anlass für essayistische Betrachtungen und Reflexionen genommen, während Nikolaus Scheibner eine spannende (Liebes-)Geschichte ohne Happyend erzählt. Ob der Basilisk endgültig vernichtet ist, bleibt auch offen …
Die Sage von der Spinnerin am Kreuz ist bei Thomas Ballhausen die Reflexion einer wartenden Frau über den Krieg, das Warten, das Sein. Im Text von Daniela Chana ist es die (ironische) Auseinandersetzung einer erfolgreichen Brautmodenschneiderin (deren Erfolg auch mit der tragischen Abwesenheit des Mannes zu tun hat) mit der Frage, wie es ist, wenn der sehnsüchtig Erwartete nach vielen Jahren tatsächlich wiederkommt und das wohlgefügte und vertraute Leben durcheinanderbringt.
Die Sage von der Rache der Hexe wird bei Elisa Asenbaum zu einer Reise durch Raum und Zeit mit aktuellem Bezug zur Absurdität der Verhüllungsvorschriften für Frauen. Die Sage von der Frau Hitt ist für Bernd Schuchter Anlass für eine kritische Betrachtung der „immer alles richtig“ machenden Tiroler. In „Die Raben“ („Wie die Raben ins Wappen der Eggenberger kamen“) werden von Stefan Schmitzer die moralischen und gesellschaftlichen Implikationen von Sagen hinterfragt. „Wie Graz zu seinem Namen kam“, ist bei Petra Ganglbauer keine sagenhafte Reise, sondern Flucht. Geschichte. Pointiert. Anders.
Sagen Reloaded ist eine gelungene, vielfältige Auseinandersetzung und Aktualisierung österreichischer Sagen mit einem breiten und spannenden Spektrum an literarischen Annäherungen und Ausdrucksformen. Es werden unterschiedlichste Bezüge zu aktuellen, gesellschaftspolitisch relevanten oder allgemein menschlichen Fragen und Themen oder Ereignissen hergestellt – auch die Coronapandemie findet ihren Niederschlag. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Gerüchte und in anekdotische Geschichten eingekleidete Verschwörungstheorien, „Zeitungssagen“ und FOAF tales (friend of a friend tale) während dieser Pandemie Hochsaison haben, was der Beschäftigung mit Sagen eine gewisse Aktualität verleiht.
Maria Aschenwald, Juli 2021
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Thomas Ballhausen und Sophie Reyer (Hg.): Sagen Reloaded
Wien: Czernin Verlag November 2020
272 Seiten
23,00 EURO
ISBN: 978–3707607055
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