Die Tiefe der Zeit – Petra Ganglbauer
Eine Rezension von Cornelia Stahl
Was aber sind die kleinsten Dinge?
Mit dieser Frage zieht uns die Autorin unweigerlich hinein in den Erzählband „Die Tiefe der Zeit“.
Darin verhandelt Ganglbauer existenzielle Daseinsmomente menschlichen Lebens, Themen wie Liebe, Geborgenheit, Zuwendung und Zärtlichkeit, und erinnert mitunter an Texte von Christine Brückner: „Hat der Mensch Wurzeln?“ und an Marie-Luise Kaschnitz: „Das Haus der Kindheit“. So viel vorab.
In der ersten Geschichte „Die Tiefe der Zeit“ (identisch mit dem Titel des Bandes) skizziert Petra Ganglbauer prägende Erfahrungen zwischen Großmutter und Enkelkind, die sich als rotes Band durch die Biografie des Heranwachsenden ziehen und später in Erinnerungen des Erwachsenen wiederholt auftauchten.
„Ein Nachhall von Blau und Rot (…) sammelte sich in meinem Gedächtnis. Und das Gedächtnis glich einer vertieften Geste“ (S.7).
Es sind Farben, die gleichfalls auf dem von Gabriele Quasebarth gestalteten Titelbild dominieren, idealerweise mit dem Text korrespondieren. Unweigerlich riefen Farben und Textfragmente eigene Assoziationen und Kindheitserinnerungen in mir wach.
In der zweiten Geschichte „Entgrenzung“ stehen wiederholt zwei Personen im Focus: Patientin und Therapeut, wobei hervorgehoben werden muss, dass die Liebesbeziehung, einseitig ausgerichtet, sich als Projektion der Patientin auf den Therapeuten offenbart, ein Ausdruck (lebenslanger) Suche nach Geborgenheit.
Den Figuren nähert sich die Autorin achtsam und behutsam an. Das langsame Tempo entspricht dem schleichenden Verlauf der Krankheit und der demenziellen Verfasstheit der Patientin. Atmosphärisch durchdringen wir das Innen- und Außenleben der erkrankten Person:
„Sie geht nicht mehr hinaus (…) Sie presst ihre Wangen gegen die Fensterscheiben (…) drückt ihre ganze Herzensschwere da hinein, in den Sehnsuchts-Blick“ (S.46).
Ganglbauers Poesie vermag dieses In-Beziehung-setzen, dieses Sich-Hineinversetzen in eine Person, was in einem Sachbuch entfällt. Mit beiden Geschichten spannt die Autorin den Bogen zwischen Erfahrungen der Kindheit bis hin zu denen des Älterwerdens. Aspekte wie Geborgenheit, Sexualität, Entgrenzungen und Krankheit stehen gleichberechtigt nebeneinander, gleichen der Palette divergierender Daseinserfahrungen menschlichen Lebens.
Was aber sind die kleinsten Dinge?
In Ganglbauer Texten verschwimmen Biografie, Realität und Fiktion unbemerkt wie in einem offenen Meer. Als Lesende sind wir eingeschlossen im Blau des offenen Meeres, sind Teil der Verwandlung.
Cornelia Stahl, im 2021
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Petra Ganglbauer: Die Tiefe der Zeit.
Zwei langsame Geschichten.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2021
74 Seiten
13 Euro
ISBN 978–3‑99126–024‑0
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Cornelia Stahl ist Sozialökonomin und Absolventin des Lehrgangs „Schreibpädagogik“. Sie ist Redakteurin bei Litges.