Was kann Poesie?
Ein Text von Karin Leroch
Poesie kann keine Ohren aufsperren, die nicht schon offen sind. Verschlossene Ohren sind deshalb verschlossen, weil sie von Gedanken verschlossen wurden, die nichts mit Poesie zu tun haben und auch nichts mit Poesie zu tun haben wollen.
Poesie kann aber doch Flöhe in verschlossene Ohren setzen, und die kribbeln sich dann weiter nach weit hinten ins unwillige ungeneigte Gehirn und kitzeln sich fest. Die Poesie springt dann Flohsprünge, hüpft von Gehirnzelle zu Gehirnzelle und vernetzt Gedanken und Gedankenbauten, die nie die Absicht hatten, vernetzt zu werden.
Die Flohpoesie wird natürlich irgendwann hungrig auf ihrem Weg durch das unwillige Gehirn und beginnt zu naschen, knibbelt winzige neue Gedankengänge und Tunnels, kommt vom hundertsten zum tausendsten Nervenende und richtet unerhörte Unordnung an.
Mitunter stimuliert Poesie flohmäßig die musikalischen Gesangs- und Rhythmusgehirnzellen, und der Träger des unwilligen ungeneigten Gehirns beginnt, ohne dass er wusste, dass er das eigentlich möchte, Poesie zu singen und zu tanzen.
Die heftige Bewegung schüttelt den Poesiefloh wieder aus dem Gehirn und durch das Ohr ins Freie, und der ursprünglich Unwillige verharrt verblüfft und weiß nicht, was gerade über ihn gekommen ist.
Aber das kann ihm die Poesie auch nicht sagen, die Poesie kann ja keine Gedanken lesen.
Dieser Text von Karin Leroch ist im Sommerworkshop „Schreiben an der Quelle“ mit Cornelia Stahl entstanden.