Blau/Müllerskind/Fragment

Ein Text von Gerhardt Ordnung

»Sind wir wohl in irgend­einem Sinne alle fiktive Figuren,
aufge­zogen vom Leben und geschrieben von uns selbst?«
James Woods / Die Kunst des Erzäh­lens / 2011

In seinem Text “Notizen zum Wunder­block” beschreibt Freud jenes Kinder­spiel­zeug, dass der mensch­li­chen Wahr­neh­mung ähnelt, in dem es geschriebene/gezeichnete Spuren auf eine Wach­s­emul­sion treffen lässt, die damit sichtbar werden. Immer wieder können diese Skizzen und Bilder aufs Neue gelöscht werden, und so können neue “Daten” Platz finden und aufge­zeichnet werden und sich dabei auch über­la­gern. Und an der Ober­fläche bleiben zarte Nach­bilder – Erin­ne­rungen – zurück, wie die Geister und Gespenster unseres Lebens. Wie die Lein­wand im Kino…

Simons­feld, liegt mitten in der Welt, – Kinder­ge­plapper.
Jetzt geht es los, sagt der Alte.
Gerade noch in der Küche Radio gehört – Erni Bieler und Rudi Hofstetter:
I’ möcht’ gern dein Herz klopfen hör’n (Bum – Bum)!
wir brau­chen dazu ka Latern.
Wir brau­chen kein Kerzen kein Licht
wann’s Herzerl heim­lich spricht.
Erin­nerst Dich ans Blaue, an die Luft, stickig, staubig, drüben sitze ich in dem Kasten drinnen, Teer und Stroh, so kam ich in die Enge und Anne­liese tönt rüber übers Feld. Kaum gewonnen, so zerronnen – eine dauernde Auffor­de­rung, klim­pern die Groschen in der Tasche, Mist­ge­ruch – immer enger und näher schnarrt es hinten los, keine Ausflucht mehr, schwin­delig, so heiß…
Sorry, wrong number, das Start­band zählt herunter. Mein Kopf ist voll, heiß, kaum einen Hauch spürest Du – warte nur balde… Zerschrammter Film, Spuren des Alters… schnarren, KNATTERN, fast aus der Bahn gelaufen. AH und OH rufen sie, und ER, der Mund ist offen, Anne­liese, warum bist Du bese auf mich?
Durch­schei­nend die Toten auf dem Feld, taghell­blau die Nacht, ein stetiges Gehen/Vergehen und mitten­drin, SIE, die Tochter, die Müllers­tochter, so jung, so schön …einge­brannt in der Erin­ne­rung durch­schim­mernd die Verstor­benen …wie in einer Prozes­sion, ihre langen weißen Gewänder.

Die verlo­rene Schwester…eingehüllt in boden­langes Weiß, schmal gegürtet, Arme kreuzen vor der Brust als Geste, ganz für sich, heilig und würde­voll.
Ein breites Band bedeckt ihre Stirn, ein güldener Stern krönt. Und zarte Flügel ragen über ihre Schul­tern. …so durch­sichtig aufge­löst im BLAU. Und Blau ist der Tod.

»Film­äs­the­tisch gilt Blau als Farbe der Nacht, der Kälte, des
Dämo­ni­schen, des Todes, der Erin­ne­rung, der Trauer, der
Melan­cholie.« Susanne Marschall, Farbe im Kino…
Taghelle Welt, mitten­drin im Leben, “es ist a Hetz und kost net vül!” Beru­higt sich alles im Inneren, schreit es im Äußeren jetzt auf – der Josef macht den Flieger! “Du Josef, die Russen kommen!” Beid­seitig die Arme, mensch­li­cher Flug­körper ohne Rich­tung, Staub und Schweiß. Brül­lende Bier­gläser, duns­tiger Nach­mittag, “wohin kleines Pony willst Du reiten?” Elend der Kreatur, Herr der Loko­mo­tive. “Zisch, frisch, ein Keli”

Aufge­blät­tert liegt es da, meine Hände sind gefaltet, und er sagt: Lazarus, komm heraus! Da kam der Verstor­bene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwi­ckelt, und sein Gesicht war mit einem Schweiß­tuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!

CUT/TAG/AUSSEN

1976 Found footage – körnige Anmu­tung von 16 mm Mate­rial, semi­do­ku­men­ta­ri­scher Stil. Ausschnitt­hafte, redu­zierte Foto­grafie, Ich bin inmitten der Stadt. Kaltes, bläu­li­ches Morgen­licht, fahle Farben. Tonlos – grau, schläf­rige Geschäf­tig­keit. Stadt­struk­turen erkennbar, Bewe­gungen, Unter­bre­chungen. Einzel­heiten werden deut­li­cher, wir gehen näher. Eine Strasse, ein Haus, ein Flur. Gleich­för­mige Ober­flä­chen – stili­siert. Ein Mann tritt auf die Straße, ein Kasten­wagen durch­quert das Bild von links wie eine Schwarz­blende. Und dazu John Surman “Rill-A-Ree” aus dem Album “Westering Home”

 

Der Text ist im Rahmen des Schreib­work­shops „Mono­loge“ bei Dieter Sperl entstanden.