Eine voll­stän­dige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe – Doris Knecht

Eine Rezen­sion von Regina Schlager

Ich-Erzäh­lerin des Romans ist eine Frau an einem Wende­punkt. Sie hasst Verän­de­rungen, wird durch ihre Lebens­um­stände aber gezwungen, sich den Verän­de­rungen zu stellen. Und fühlt sich letzt­end­lich freier als zuvor.
Die beiden Kinder sind alt genug, die gemein­same Wohnung zu verlassen. Zurück bleibt der Hund. Die gemie­tete Wohnung in Wien ist nun zu teuer. Doch wo soll sie jetzt hin? Und wohin mit all dem Zeug, das sich ange­sam­melt hat? Es gilt, sich zu verklei­nern. Die Prot­ago­nistin legt Listen an, sie macht Ordnung, sie gibt Dinge weg.
Sie ist eigent­lich gerne alleine. Sie spricht von Soli­tude, selbst gewähltem Allein­sein, – und wie wenig das Frauen zuge­standen wird. Aus dem Eltern­haus in Vorarl­berg ist sie früh geflüchtet, sie hat sich neben den strah­lend-schönen, blonden Schwes­tern und der ebenso schönen Mutter wie eine häss­liche Außen­sei­terin gefühlt.
Die Prot­ago­nistin findet zu einer Lösung, die für mich als Leser*in schon bald auf der Hand lag. Sie entwindet sich im Laufe der Geschichte den Fesseln, die sie sich aufer­legt hat, indem sie den Auffas­sungen von Erfolg ihrer Eltern, ihrer Schwes­tern in Vorarl­berg und von Freunden in Wien folgt: was man erreicht haben muss, um als erfolg­reich zu gelten – ein Einfa­mi­li­en­haus oder eine große Wohnung als Eigentum besitzen (dabei hat sie sogar selbst Eigentum). Und sie löst sich auch von den Vorstel­lungen, wie eine Frau und Mutter zu sein hat, deren Kinder das Haus verlassen.
Das Buch liest sich kurz­weilig, es ist in knappen Kapi­teln geschrieben, die alle so beti­telt sind, dass es neugierig macht, was dahinter steckt. Zur Sprache kommt das Erzählen selbst: Wie ist es über­haupt möglich, über das eigene Leben zu schreiben? Wie zuver­lässig sind Erin­ne­rungen? Die Erzäh­lerin beschreibt das Ritual mit ihrer Mutter und den Schwes­tern, alte Fotos anzu­schauen:
Wir streiten über jedes einzelne Bild, über den Tag, über den Ort, über die Leute im Bild, über die Leute, die nicht im Bild sind, wir streiten uns eine Erzäh­lung zu dem Bild zusammen, unser Leben als Kinder, unsere Vergan­gen­heit.“ (S. 38)

Ein span­nendes Buch über eine Frau, die selbst­be­stimmt in einen neuen Lebens­ab­schnitt hinein­wächst, ohne großes Klimbim und ohne Kata­stro­phen, und genau in dieser Unauf­ge­regt­heit zeigt, wie äußerst mutig das ist.

 

Regina Schlager, Dezember 2023

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Doris Knecht: Eine voll­stän­dige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Berlin: Hanser 2023
237 Seiten
24.70 EURO
ISBN: 978–3‑446–27803‑5

 

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