WIR KOMMEN. Kollek­tiv­roman – LIQUID CENTER / Verena Günter, Elisa­beth R. Hager und Julia Wolf

Eine Rezen­sion von Barbara Rieger

Weib­li­ches* Begehren, Sex und Alter.

Im Prolog wird das Bild eines Okto­pusses ins Leben gerufen und zu „viel­ar­migen körper­li­chen erfah­rungen“ einge­laden. Im Unter­schied zu den acht Armen und neun Gehirnen des Okto­pusses, sind es hier sogar 18 Autor*innen verschie­dener Gene­ra­tionen, die diesen Text verfasst haben:

Lene Albrecht · Ulrike Draesner · Sirka Elspaß · Erica Fischer · Olga Grjas­nowa · Simoné Gold­schmidt-Lechner (sgl) · Verena Güntner · Elisa­beth R. Hager · Kim de l’Ho­rizon · I.V. Nuss · Maxi Obexer · Yade Yasemin Önder · Caca Savić · Sabine Scholl · Clara Umbach · Julia Wolf · und zwei Autor*innen, die anonym bleiben wollen.

Sie wurden vom femi­nis­ti­schen Lite­ra­tur­kol­lektiv „Liquid Center“ (Verena Günter, Elisa­beth R. Hager und Julia Wolf), einge­laden, zu den oben genannten Themen zu schreiben. Aber nicht etwa in Form einer klas­si­schen Antho­logie, in der ein indi­vi­duell verfasster Beitrag auf den anderen folgt. Viel­mehr wurde gemeinsam an einem einzigen Doku­ment geschrieben, anonym. Das in dieser Form in einem Zeit­raum von sechs Wochen entstan­dene Mate­rial haben die Heraus­ge­be­rinnen zum vorlie­genden „Kollek­tiv­roman“ verdichtet.

Dieser ist in kürzere Kapitel geglie­dert, die Titel wie „Da unten“, „What’s your kink“ „Zitronen“, oder „Formen des Zugriffs“ tragen. Darin kommen verschie­dene Autor*innenstimmen zu diesen Themen zu Wort, durch Absätze vonein­ander getrennt, aber aufein­ander reagierend:

Seit ich Anti­de­pres­siva nehme, kann ich nicht mehr so leicht kommen. Entweder ist die Welt zu viel, oder die Lust zu wenig.

Erst seit ich ein Kind will, habe ich Spaß an Sex.

Das klingt schön, mir hat der jahre­lang uner­füllte Kinder­wunsch ziem­lich das Sexleben verha­gelt. Zu viel Druck, zu viel Frust. Als ich dann endlich schwanger war, waren wir beide einfach nur erleich­tert, dass wir nicht mehr mitein­ander schlafen müssen.“

So stehen ähnliche Erleb­nisse oder Ansichten neben sich ergän­zenden oder konträren, ohne sich aller­dings zu wider­spre­chen. Viel­mehr zeugen sie gemeinsam von der Band­breite des Begeh­rens. Nichts muss, alles darf sein in diesem Text. Er scheint ein safe space zu sein, in dem auch Tabui­siertes und Scham­be­setztes ausge­drückt werden kann.
Und wenn schon nicht scham­be­setzt, schwierig zumin­dest scheint es immer: Der eigene – junge oder alte – Körper, die Blicke der anderen auf diesen Körper, Mens­trua­tion, Mastur­ba­tion, Verlangen, Lust, der Sex der anderen (Eltern), Sex mit jungen Männern, mit (eigenen) Ehemän­nern, mit Frauen, Freun­dinnen, Fremden, lesbi­scher Sex, queerer Sex oder kein Sex (mehr).

Es ist kein schöner Gedanke, aber ich habe auch anhand des Schrei­bens hier mit euch reali­siert, wie viel Macht ich anderen über mich gebe. Gerade wenn es um mein Begehren geht, das sich nie frei entfalten konnte, das immer schmerz­haft verkop­pelt war mit meinen Prägungen und den daraus resul­tie­renden Annahmen über Liebe, Bezie­hung und Sexua­lität im Allge­meinen. Ich kann mein Verlangen nicht unab­hängig von den Wünschen und Bedürf­nissen anderer denken. Ich beziehe mich endlos auf sie, achte auf jede Regung, richte meine eigene Lust und deren Erfül­lung danach aus.“ (S. 109), schreibt eine Autor*in im Kapitel „wildes Fleisch“.

Es geht also auch um Macht und Ohnmacht, um das Erleben von sexua­li­sierter Gewalt und weiters um Suizid und Tod. Und ja, viele der Passagen können durchaus, wie zu Beginn ange­merkt, belas­tend und retrau­ma­ti­sie­rend wirken. Andere wirken empowernd, versöhn­lich oder als Mani­feste der Lust.

Längere narra­tive Passagen wech­seln sich mit kürzeren, zum Teil dialo­gi­schen, meist persön­li­chen, manchmal essay­is­ti­schen oder poeti­schen ab. Ob der Text zu Recht als Roman bzw. als Kollek­tiv­roman bezeichnet wird, kann sicher­lich zur (germa­nis­ti­schen) Streit­frage werden. Kollektiv sind der Text und die geschil­derten Inhalte jeden­falls, viel­leicht so kollektiv, dass jede als weib­lich gele­sene Person das Gefühl haben könnte, an diesem Text mitge­schrieben zu haben. Oder den Wunsch. 

 

Barbara Rieger , Juli 2024

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

LIQUID CENTER / Verena Günter, Elis­beth R. Hager und Julia Wolf (Hrsg.):
WIR KOMMEN. Kollek­tiv­roman
DuMont Buch­verlag: Köln 2024
207 Seiten
25 EUR
ISBN-13: ‎78–3832168339

 

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