Der tanzende Berg – Elisabeth R. Hager
Eine Rezension von Maria Aschenwald
Marie Scheringer ist nach 15 Jahren in ihren Heimatort im Tiroler Unterland zurückgekommen. Als Mitarbeiterin bei einem Radiokultursender hatte sie in der Bundeshauptstadt gelebt, dort aber emotional nie wirklich Fuß gefasst. Sie übernimmt die Werkstatt ihres Onkels Franz, der Tierpräparator war und vor einigen Jahren verstorben ist. Von klein auf hat er ihr dieses Handwerk beigebracht. Doch die örtliche Jägerschaft – die Hauptkundschaft des Onkels – gibt ihr keine Aufträge, denn: „Für ein Weibsbild gehört sich das Ausstopfen nicht“ (S. 32). So hält sich Marie mit dem Präparieren von Wolpertingern für Touristen und von Haustieren mehr schlecht als recht über Wasser. Da kann sie einen sehr lukrativen Eilauftrag, den ihre Tante Hella geschickt verhandelt hat, nicht ablehnen. Sie soll innerhalb eines Tages den Schoßhund der Hotelerbin ausstopfen – als Geburtstagsgeschenk des Vaters zur mitternächtlichen Pyjamaparty. Marie macht sich an die Arbeit und dabei suchen sie die Erinnerungen an ihre große Liebe Youni heim, der vor sechs Wochen unter ungeklärten Umständen bei einer Explosion verstorben ist. Youni war einst als unbegleiteter Minderjähriger in den Ort gekommen und hatte Maries Einsamkeit als jugendliche Außenseiterin beendet. Er war es, der ihr jetzt den Mut gegeben hatte, wieder zurück zu kommen. Über Youni und die Umstände seines Todes herrscht ein bedrückendes Schweigen im Dorf. Dann taucht die Butz auf – Ursula Meyer – eine ehemalige Dorfbewohnerin, die erste, die Marie jetzt kondoliert. Auch die Butz hatte einst den Ort verlassen, obwohl sie intensiv mit der Natur verbunden war: „Das ist meine Landschaft, für die bin ich gemacht.“ (S. 104). Ihr innigster Wunsch wäre die Übernahme des väterlichen Bauernhofes gewesen und auch sie war in Verbindung mit Youni gewesen und hat einiges zu erzählen.
In intensiven Bildern entwickelt Elisabeth R. Hager ihren fulminanten Roman über zwei starke Frauen, verkrustete dörfliche Strukturen, nach wie vor herrschende Männermacht und patriarchales Gehabe, Heimat und Fremdsein, die Schwierigkeit in dieser engen Welt der dörflichen Sozialkontrolle anders zu sein, nicht zu entsprechen. „Das ganze Leukental schaut aus wie geschleckt. Man möchte meinen, es gäbe da (..) nur reiche, nur zufriedene Leut. Aber eins sag ich dir: Die Welt von denen, die man so gut sehen kann, steht auf dem Schutthaufen von denen, die‘s zerbröselt hat.“ (S. 156)
Feine Beschreibungen der Schönheit und Sinnlichkeit der Landschaft finden sich ebenso wie Schickeria und Kitzbühel – ein moderner Tiroler Heimatroman im besten Sinne. Die Autorin, selbst in dieser Gegend aufgewachsen (wie auch die Rezensentin), weiß sehr genau, wovon sie schreibt und spart nicht mit Knalleffekten – damit der Berg endlich tanzt.
Sie hat ihr Buch gewidmet: „Für Yasin und alle anderen, die es zerbröselt hat.“
Elisabeth R. Hager, geboren 1981 in Tirol, ist Schriftstellerin, Klangkünstlerin und redaktionelle Mitarbeiterin der Abteilung Radiokunst von Deutschlandfunk Kultur. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Hilde Zach Literaturstipendium der Stadt Innsbruck 2018. Als Teil des Kollektivs „Writing with CARE / RAGE“ kämpft sie für die bessere Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie zwischen Berlin, Tirol und Neuseeland. »Der tanzende Berg« ist ihr dritter Roman.
Maria Aschenwald, Oktober 2024
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Elisabeth R. Hager: Der tanzende Berg
Stuttgart: Klett-Cotta 2022
256 Seiten
22 EUR
ISBN: 978–3‑608–11931‑2